Natur und Tourismus

"Die Wildnis sich selbst überlassen"

Quelle: Chiemgau-Zeitung / 01.03.2012

Vor eineinhalb Jahren war Dr. Michael Lohmann auf lauten und heftigen Widerstand gestoßen, als der Biologe vorschlug, die gesperrte Kernzone des Naturschutzgebiets Achendelta kontrolliert für Natur interessierte Touristen zu öffnen. Im Gegenzug sollten jetzige Nutzer auf ihre Rechte verzichten, wenn es nach dem anerkannten Vogelkundler geht. Diese Interessensgruppen hatten damals vehement protestiert. Jetzt startet Lohmann einen neuen Anlauf.


Das größte Binnendelta Mitteleuropas ist Sperrgebiet. Ein Kreis aus Natur- und Vogelschützern wirbt für eine kontrollierte touristische Nutzung der Kernzone des Naturschutzgebiets. Foto zimmermann
Prien/Chiemsee - "Eine Wildnis, die sich möglichst selbst überlassen ist" für Naturliebhaber kontrolliert erlebbar zu machen - Das ist Lohmanns Vision. Als er sie 2010 in der Chiemgau Zeitung erstmals öffentlich machte, sah er sich schnell heftiger Proteste ausgesetzt. Jäger, Fischer und Landwirte, die in der gesperrten Kernzone teilweise seit Jahrzehnten ihren Tätigkeiten nachgehen, machten deutlich, dass sie nicht daran denken, auf ihre angestammten Rechte zu verzichten.
Der Widerstand war auch deshalb so vehement, weil Lohmann vorher nicht mit diesen Interessensgruppen gesprochen hatte. Das soll nun, im neuen Anlauf anders werden. Bald sollen alle, die im Achendelta etwas zu tun oder zu sagen haben, unter Moderation von Rimstings Bürgermeister Josef Mayer in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Abwasser- und Umweltverbandes (AZV) Chiemsee an einen runden Tisch geholt werden, um unverbindlich Positionen und Meinungen auszutauschen. Die Bürgermeister der beiden Anliegergemeinden des Deltas, Marc Nitschke aus Übersee und Georg Schützinger aus Grabenstätt, werden auch am runden Tisch sitzen.
Der AZV ist für Lohmann neben dem Ökomodell Achental ein denkbarer Träger für eine touristische Aufwertung des Mündungsgebiets der Ache in den Chiemsee. Sein Traum, diese "Wildnis, wie man sie in Deutschland nur noch an wenigen Stellen finden kann", mit Beobachtungstürmen, Wanderstegen und einem "Naturpavillon" als Informationszentrum nahe der Gaststätte in der Hirschauer Bucht erlebbar zu machen, ist nicht neu.
Schon 1960 schrieb der Biologe in einer Veröffentlichung: "Es müssen zu einem wirklichen Schutz und Ausbau dieses mit so hoffnungsvollen Möglichkeiten gesegneten Gebietes umgehend ernsthafte Maßnahmen ergriffen werden, wenn vermieden werden soll, dass die bestehenden Verbote und Einschränkungen nur Negatives bringen, ohne auf der anderen Seite einen wirklichen Erfolg zu zeigen."
Über 50 Jahre später wirbt der Endsiebziger, der sich vor allem als profunder Kenner der heimischen Vogelwelt einen Namen gemacht hat, immer noch beziehungsweise wieder für seine Überzeugung. Im "Bayerischen Hof" traf er bei seinem Vortrag am Dienstagabend in der vollen Bauernstube auf viele Befürworter, die in der Diskussion unter Leitung des früheren Forstamtsleiters Dr. Klaus Thiele Ideen einbrachten, aber auch nicht mit kritischen Anmerkungen sparten.
Viele Entwicklungen der Flora und Fauna im Achendelta machen Fachleute zwar an Erklärungen fest, belegbar sind sie letztlich aber nicht. Das gilt zum Beispiel für das nahezu vollständige Verschwinden von Flussseeschwalbe und Flussuferläufer zwei besonders bedrohten Vogelarten, für die laut Lohmann sehr hohe Population von Hirschkühen samt Nachwuchs mit einer laut Thiele "erschreckenden Verbisssituation" als Folge oder für den Umstand, dass Seeadler zwar 2000, 2008 und 2011 beobachtet wurden, aber nicht brüteten.
Dass manche seltene Vogelart aus dem Delta verschwunden ist, machen Lohmann und seine Mitstreiter auch an dem Umstand fest, dass die Sperrung der Kernzone oft missachtet wird, teils aus Neugier, teils aus Unwissenheit. "Da wimmelt es von Leuten", berichtete der Biologe, was Naturfotograf Hans Zimmermann mit "schlechten Management" erklärte. Gemeint war der Umstand, dass Umzäunung und Beschilderung ihrer Auffassung nach nicht konsequent gepflegt würden, auch, weil die zuständige Behörde dazu personell schlichtweg nicht in der Lage wäre.
Geht es nach Lohmann und werden eines Tages Besuchergruppen durch das Delta geführt, wird das Gebiet dann auch von "Rangern" wie in Nationalparks überwacht. Die Frage, wer solche Aufseher einstellen und bezahlen würde, ist eine von vielen, die zu klären sind.
Die Hoffnung, dass es in nicht allzu ferner Zukunft so weit kommt, nehmen Lohmann und seine Mitstreiter auch aus der Überzeugung, dass eine kontrollierte Öffnung der Delta-Kernzone Chancen für eine Belebung der touristischen Vor- und Nachsaison birgt. Das wiederum könnte Motivation für Politiker und Touristiker gleichermaßen sein, das Vorhaben zu unterstützen.
Nun geht es aber zunächst darum, am runden Tisch auszuloten, ob Jäger, Landwirte und Fischer mitspielen. db

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